Ein Blick in die digitalen Zukünfte des mitteldeutschen Sonderkulturenbaus
Während sie im Bereich der Flächenkulturen häufig bereits standardisiert zum Einsatz kommen, sind digitale Technologien auf Obsthöfen und Weingütern bislang noch relativ selten anzutreffen. Über die Gründe hierfür und über die Frage, wie sich Zukunft wissenschaftlich beschreiben lässt, haben wir mit Dr. Juliane Welz vom Fraunhofer IMW gesprochen.
Frau Dr. Welz, in einem Zielbild entwerfen Sie eine visionäre Zukunft für den regionalen Obst- und Weinbau in Mitteldeutschland. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Einsatz digitaler, vernetzter Technologien. Wie sind Sie zu diesem Zielbild gelangt?
Hinter den Zukünften, die wir in unserem Zielbild zeichnen, liegt ein Prozess, der ganz unterschiedliche methodische Schritte verzahnt. Zunächst die Erstellung einer Vision, die wir in unserem Projekt, dem digitalen Experimentierfeld EXPRESS, gemeinsam erarbeitet haben. Die Vision ist im Rahmen eines Workshops zu Beginn des Projekts entstanden. Dabei haben wir verschiedene Gründe identifiziert, aus denen es wichtig ist, die digitale Transformation der Landwirtschaft zu fördern. Diese Gründe haben wir gebündelt in einer griffigen Vision zusammengefasst.
Das visionäre Zielbild baut auf dieser Vision auf, geht aber stärker in die Tiefe. Wir schauen uns darin erstens die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen auf nationaler Ebene an. Zweitens haben wir uns mit den Entwicklungen auf regionaler Ebene beschäftigt, das heißt mit den landwirtschaftlichen Betrieben im Obst- und Weinbau in Mitteldeutschland und ihren Herausforderungen. In einem dritten Schritt haben wir das Zielbild auf die Ebene unseres Projekts heruntergebrochen. In unserem Zielbild für das Jahr 2024 spielen also eine Vielzahl von Annahmen eine Rolle, die sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielen und die verschiedene Aspekte berücksichtigen – technologische, soziale, wirtschaftliche und ökologische.
Wie ist es Ihnen als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gelungen, sich in die Lage der Betriebe hineinzuversetzen?
Wir haben das Glück, dass wir im Experimentierfeld EXPRESS eng mit Betrieben in der Region kooperieren. Diese sind unsere zentralen Ansprechpartner und sozusagen die Modellbetriebe, mit denen wir unsere Lösungen erproben. Zudem haben wir am Fraunhofer IMW Fachgespräche mit Praktikerinnen und Praktikern aus dem Obst- und Weinbau durchgeführt. Darin haben wir insbesondere den Einsatz von neuen Technologien und die Offenheit gegenüber deren Einsatz erfasst. Wir haben gefragt, welche Chancen und Hürden Landwirtinnen und Landwirte beim Einsatz digitaler Technologien sehen.
Darüber hinaus haben uns politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen interessiert, von denen die Betriebe betroffen sind. Ein Beispiel: Wenn Sie auf Ihrem Weingut eine Drohne einsetzen würden, welche Vorteile könnte Ihnen das bringen und welche Barrieren sehen Sie andererseits – etwa im Umgang mit dieser Technologie durch die Mitarbeitenden? Welche Voraussetzungen müssten zunächst geschaffen werden?
Welche Rolle spielt die Formulierung eines solchen Zielbilds in Ihrer Projektarbeit?
Das Zielbild ist für uns ein Denkwerkzeug und als solches Teil einer umfassenden, internen Wissenstransferstrategie. Das Zielbild zeichnet eine wünschenswerte Zukunft, die in gewisser Weise normativ ist und auf die wir als Projekt hinsteuern wollen. Zumindest betrifft das die Ebene des Experimentierfelds, denn die Rahmenbedingungen auf regionaler und auf nationaler Ebene können wir nur bedingt beeinflussen. Aber wir können sie berücksichtigen und die positiven Entwicklungen, die wir sehen, mit in das Gedankenspiel aufnehmen. Dieses Denkwerkzeug hilft uns dabei, unser Ziel auszurichten und das Forscherteam auf einen gemeinsamen Weg zu bringen. Häufig ist es gerade in interdisziplinären Projekten so, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt. Ein klares Zielbild kann dabei helfen, den roten Faden im Blick zu behalten.
Über Vision und Zielbild haben wir bereits gesprochen. Welche weiteren Bausteine umfasst Ihre interne Wissenstransferstrategie in EXPRESS?
Anknüpfend an unser Zielbild blicken wir im Rahmen eines Backcasting-Prozesses aus unserer normativen Zukunft zurück und analysieren, wie wir diese erreichen können. Dieser Backcasting-Prozess ist wiederum gegliedert in unterschiedliche Teile. Dazu gehören auch Vertiefungsanalysen, die wir in den Bereichen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Technologie durchführen. Darin schauen wir uns gezielt an, welche Entwicklungen es gibt, zum Beispiel auf europäischer Ebene mit Blick auf den Green Deal und die neue Agrarreform. Aber auch Entwicklungen im technologischen Bereich: Etwa die Rolle von Datenplattformen und deren Relevanz für den Bereich der Sonderkulturen. Auch die Bildungs- und Informationslandschaft zu neuen Technologien ist ein wichtiges Thema. Unsere Erkenntnisse zu diesen Aspekten aggregieren wir dann in einen Backcasting-Workshop, in dem alle Informationen zusammenfließen.
Was ist Ihr Eindruck: Wie handlungsfähig fühlen sich Landwirtinnen und Landwirte im Obst- und Weinbau mit dem Thema der Digitalisierung?
Die Sonderkulturen sind ein Sonderfall. Die Digitalisierung der Landwirtschaft ist zwar insgesamt schon recht weit vorangeschritten, das betrifft aber vor allem die Flächenkulturen. In den Sonderkulturen steht die Digitalisierung noch am Anfang. Das hat unterschiedliche Gründe. Einer ist, dass Wein- und Obstbau Raum- beziehungsweise Dauerkulturen sind. Der Einsatz digitaler Technologien ist in zweidimensionalen Kulturen einfach standardisierter möglich als in dreidimensionalen. Für diese gibt es bislang nur wenige Marktlösungen. Zudem ist es so, dass der Obst- und Weinbau hier in Mitteldeutschland eine eher geringe Rolle spielt im Vergleich zu den Flächenkulturen. Es handelt sich demnach um Nischenlösungen, die sich auf kleine Flächen spezialisieren.
Die Offenheit aufseiten der Landwirtinnen und Landwirte ist divers. Es gibt Betriebe, die sehr aufgeschlossen gegenüber den neuen Entwicklungen sind und bereits Neues ausprobieren. Andere sind skeptischer, weil zum Teil auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht wurden – gerade, was die Wirtschaftlichkeit der Technologien angeht.
Inwieweit profitieren Sie im Bereich des Wissenstransfers in EXPRESS von Erfahrungen, die Sie am Fraunhofer IMW im Rahmen anderer Projekte sammeln konnten?
Jeder Wissenstransferprozess ist unterschiedlich. Es gibt keine Blaupause. Und so ist es auch in EXPRESS angelegt: Es ist ein Experimentierfeld für die digitale Transformation der Landwirtschaft, es ist aber gleichzeitig auch ein Experimentierfeld für den projektinternen Wissenstransfer (lacht). Wir verfolgen in EXPRESS eine Transferstrategie, die wir so noch nicht in anderen Projekten umgesetzt haben. Dass etwa von Anfang an mit einer Vision gearbeitet wird, ist relativ neu. Dass man ein Zielbild erarbeitet und daran einen Backcasting-Prozess anschließt, ist methodisch nicht neu für uns, aber die Art der Konzeption haben wir verändert. Wir haben in der Gruppe Professionalisierung von Wissenstransferprozessen am Fraunhofer IMW verschiedene Erfahrungen mit einzelnen Methoden der Zukunftsforschung gemacht, die wir aber jeweils an die Projektkontexte anpassen. So arbeiten wir zum Beispiel oft mit Szenariotechniken, um unterschiedliche Zukünfte zu zeichnen. Im Fall von EXPRESS haben wir eine Zukunft, unser normatives Zielbild. Und ich bin sehr gespannt, wie wir darauf zurückschauen werden, wenn das Projekt beendet ist – was haben wir von unserer Vision umgesetzt und was können wir für zukünftige Projekte lernen?
Welche nächsten Schritte stehen nun für Sie im Projekt an?
Was jetzt ansteht, ist die Betreuung der einzelnen Lösungsteams mit ihren Meilensteinen für die nächsten eineinhalb Jahre. Wir werden vor allem ein Auge darauf werfen, dass die gesteckten Ziele aus der Vision und dem normativen Zielbild in der Umsetzung der Lösungen berücksichtigt werden, sodass der rote Faden erkennbar bleibt. Außerdem arbeiten wir an der Veröffentlichung der bereits angesprochenen Vertiefungsanalysen. Diese sind nicht nur relevant für die Umsetzung der einzelnen Meilensteine, sondern haben zudem einen informativen Charakter und sind auch für die breite Öffentlichkeit von Interesse.
Am Ende des Projekts wird dann ein retrospektiver Ergebnis-Workshop stattfinden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt unserer Wissenstransferstrategie: noch einmal rückblickend zu schauen, ob wir unsere gesteckten Ziele erreicht haben, welchen Herausforderungen wir begegnet sind und inwiefern die Lösungen für den Transfer in andere Betrieben geeignet sind.
Was wäre denn ein vorläufiges Zwischenfazit – kommt es zum Transfer?
Wir befinden uns ja aktuell in der Situation, dass wir aufgrund der Pandemie alle zuhause vor dem Rechner sitzen. Und Landwirtschaft passiert nun mal auf dem Schlag. Wir sind also in unseren Tätigkeiten sehr begrenzt. Wir hatten jetzt im ersten Jahr, in dem wir alle Wachstumsperioden begleiten konnten, die Möglichkeit, die ersten Technologien mit unseren experimentierfreudigen Landwirtschaftsbetrieben zu erproben. Das hat uns auch gezeigt, dass die eingesetzten Technologien wirklich noch in der Erprobung und noch nicht für die breite Masse verfügbar sind. Wir kommunizieren daher viel über unsere Webseite, einen Instagram-Account und unseren Newsletter sowie die Fachgespräche mit Landwirtinnen und Landwirten. Um die Nähe zu diesen zu stärken und über die Mehrwerte unserer digitalen Technologien zu berichten, werden wir dieses Jahr mit unserem mobilen Ausstellungsraum, unserer Mobilen Scheune, direkt zu den Obsthöfen und Weingütern fahren. Auf diesen Austausch freuen wir uns sehr und sind gespannt zu erfahren, auf welche Resonanz unsere Lösungen in den Betrieben dann stoßen und welche Anpassungen noch vorzunehmen sind.