Digitale Landwirtschaft in Deutschland: eine Zukunftsvision
Was kann heute geschehen, damit die digitale Transformation zu einer nachhaltigen und effizienten Landwirtschaft beiträgt? Zur Beantwortung dieser Frage hat das EXPRESS-Team ein visionäres Zukunftsbild erarbeitet, das im Rahmen des Digitaltags 2020 aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und validiert wurde.
Angesichts der heutigen Anforderungen an eine Landwirtschaft der Zukunft kann einem schon einmal schwindelig werden. Begrenzte Ressourcen und Umweltschäden durch intensive Bewirtschaftung erfordern die Einführung nachhaltiger Anbauverfahren. Mit dem Wachstum des Wohlstands und der Bevölkerung weltweit steigt zugleich die Nachfrage an hochwertigen Agrarprodukten. Während hohe Betriebskosten und niedrige Erzeugerpreise in Deutschland zu einem drastischen Rückgang landwirtschaftlicher Betriebe geführt haben, verändert der Klimawandel die grundlegenden Voraussetzungen, unter denen Pflanzen gezüchtet, angebaut und geerntet werden.
Um in einem derart komplexen Umfeld zielgerichtet handeln zu können, braucht es eine klare Vorstellung davon, wie eine wünschenswerte Zukunft aussehen könnte. Ein solches Zukunftsbild für den Anbau von Sonderkulturen in Mitteldeutschland erarbeitete das EXPRESS-Projektteam in einem digitalen Workshop am 8. Mai 2020.
Grundlage für das Zukunftsbild waren die verdichteten Ergebnisse des Visionsworkshops, der im Herbst 2019 durchgeführt wurde, Erkenntnisse aus den Fachgesprächen mit Landwirten im Frühjahr 2020 sowie Kontextinformationen aus der Literatur. Im Fokus stand die Frage, welche Rolle digitale Technologien beim Erreichen des visionären Zukunftsbilds spielen könnten.
Digitaltag 2020: Digitaler Dialog „Zukunft der Landwirtschaft“
Im Rahmen des Digitaltags am 19. Juni 2020 wurde dieses Zukunftsbild nun von Akteuren aus verschiedenen Disziplinen diskutiert und bewertet. Insgesamt 19 Teilnehmende bereicherten den Digitalen Dialog unter dem Titel „Zukunft der Landwirtschaft“ durch ihre Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen. Eine Reihe von interaktiven Formaten ermöglichte einen intensiven Austausch. Neben technischen Erläuterungen zu den Schwerpunkten Wasserstress, Virtuelle Realität und Regionalität ging es auch um die Frage, welche finanziellen Hürden bei der Digitalisierung für kleinere Betriebe existieren. Dazu Hannes Mollenhauer vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH – UFZ:
„Es gibt eigentlich für jede Zielgruppe Möglichkeiten und Potenziale. Man braucht nicht viel Sensorik, um Trockenstressmodellierung prinzipiell zu betreiben. Da sehe ich Möglichkeiten, auch mit geringen Ressourcen Lösungen umzusetzen. Dementsprechend ist da ein Einstieg relativ schnell möglich. Es kommt natürlich darauf an, in welcher Feinheit solche Messungen möglich sein sollen.“
Hannes Mollenhauer, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH – UFZ
Die regen Diskussionen sorgten unter den Teilnehmenden für eine ganze Reihe von Aha-Erlebnissen. Wie zentral das Thema Digitale Landwirtschaft in Deutschland derzeit ist, wurde auch daran deutlich, dass die Initiative „Digital für alle“ den Digitalen Dialog „Zukunft der Landwirtschaft“ bereits im Vorfeld des Digitaltags zu einer von sieben Highlight-Aktionen in der Kategorie “Gesellschaft und Umwelt” erklärt hatte.
Digitale Agrartechnologie erfordert einen ganzheitlichen Ansatz
Deutlich wurde während der Diskussionen, dass die ganzheitliche Betrachtung verschiedener Bereiche bei der Digitalisierung in der Landwirtschaft von essenzieller Bedeutung ist. Dies bezieht sich zum einen auf die Einbeziehung aller beteiligten Akteure, ihrer Möglichkeiten und Bedarfe. So sind die landwirtschaftlichen Betriebe gefordert, digitale Kompetenzen aufzubauen und Verantwortung für die Einführung nachhaltiger Anbauverfahren zu übernehmen. Doch sie können den angestrebten Wandel nicht allein stemmen, denn für die erforderlichen Transformationen setzt die Politik den Rahmen. Im visionären Zukunftsbild wurde daher explizit auf die Notwendigkeit eines neuen Agrar-Digitalrechts hingewiesen. Ergänzend dazu äußerte sich Tino Hutschenreuther vom IMMS Institut für Mikroelektronik- und Mechatronik-Systeme gemeinnützige GmbH auch zu den technischen Hürden von digitalen Lösungen im Pflanzenbau:
„Was ich wichtig finde ist, dass man den Landwirt nicht mit der Flut an Lösungen alleine lässt. Er sollte sich nicht um die Technik kümmern, sondern sich mit technischen Belangen möglichst wenig beschäftigen müssen.“
Tino Hutschenreuther, IMMS Institut für Mikroelektronik und Mechatronik-Systeme gemeinnützige GmbH
Zudem müssen auch Produktionsketten und -verfahren ganzheitlich betrachtet werden, um aussagekräftige Bewertungssysteme für einen nachhaltigen Pflanzenbau zu schaffen . Das geht weit über die Betrachtung der Situation auf dem einzelnen Schlag hinaus. Laut dem Zukunftsbild sollte immer häufiger eine Gesamtbetrachtung der Produktionsprozesse unter Einbezug ganzheitlicher, aber gleichzeitig komplexer digitaler Verfahren vorgenommen werden.
Digitalkompetenz stärken durch systematischen Wissenstransfer
Dass die digitale Transformation selbst eine ganzheitliche Entwicklung ist und vor keinem Lebensbereich halt macht, spiegelte sich auch in den Formaten des Workshops und des Digitalen Dialogs wider. Fand der Visionsworkshop im Herbst 2019 noch in den Räumlichkeiten des Fraunhofer IMW statt, erforderten die geltenden Kontaktbeschränkungen diesmal ein Ausweichen auf digitale Kanäle. So kommunizierten die Teilnehmenden per Videokonferenz, arbeiteten an gemeinsamen Online-Dokumenten auf einem virtuellen Whiteboard und verfolgten die gemachten Fortschritte in Echtzeit über miteinander geteilte Bildschirme.
Der Aufbau von Digitalkompetenz ist somit keine Herausforderung, vor der die Landwirtschaft alleine steht. Er ist in der Landwirtschaft aber gerade deshalb so wichtig, weil diese so essenziell für die Ausgestaltung unseres zukünftigen Zusammenlebens ist. Im Rahmen von EXPRESS arbeiten wir daher an einem systematischen Wissenstransfer. So können sich Wissenschaft und Praxis durch einen zielgerichteten Austausch gegenseitig bereichern und Erkenntnisse miteinander teilen. Nach der Visionsbildung im Herbst 2019 stellte die Erarbeitung des EXPRESS-Zielbilds den zweiten Meilenstein im Rahmen der internen Wissenstransferstrategie dar.